Für mich war die Insel Borneo schon immer ein Synonym für eine ganz bestimmte Primatenart: die Orang-Utans, wissenschaftlich: Pongo. Neben Gorillas, Schimpansen und der Gattung Homo stellen sie die vierte Gattung innerhalb der Familie der Hominiden dar – und sind die einzige nicht-menschliche, deren natürlicher Lebensraum sich außerhalb Afrikas befindet. Die Borneo-Orang-Utans leben hauptsächlich in den südlichen und östlichen Teilen der drittgrößten Insel der Welt. Wir befinden uns jedoch im Nordwesten – und das mit voller Absicht.
Bei der Recherche zu unserer Reise stieß ich auf zahlreiche Videos von Begegnungen zwischen Mensch und Tier in freier Wildbahn, meist aufgenommen im indonesischen Teil Borneos während geführter Touren. In mehreren Aufnahmen war zu sehen, wie die bis zu 90 Kilogramm schweren Tiere Menschen berührten – und dann regelrecht „als Geiseln“ hielten, um Futter zu erpressen. Im Gesichtsausdruck der Menschen sah man zunächst Freude über die unerwartete Nähe, doch sobald die Erkenntnis durchsickerte, dass das Tier nicht vorhatte loszulassen, wich die Begeisterung allzu schnell Angst und Panik.
Natürlich würden wir unsere Kinder niemals einer solchen Gefahr aussetzen. Glücklicherweise gibt es eine wunderbare Alternative – einer der Hauptgründe, weshalb Kuching unser Reiseziel auf Borneo geworden ist: das Semenggoh Wildlife Centre, etwa eine halbe Autostunde südlich von Kuching. Hier werden Orang-Utans, die aus Gefangenschaft gerettet wurden oder verletzt bzw. krank aufgefunden wurden, gepflegt und auf ein Leben in Freiheit vorbereitet. Das angrenzende Semenggoh-Naturschutzgebiet umfasst rund 650 Hektar – etwa 1.000 Fußballfelder – und bietet den Tieren ausreichend Raum, um sich frei und ungehindert zu bewegen.
An einer zentralen Stelle des Reservats befinden sich Futterplattformen, an denen zweimal täglich Früchte ausgelegt werden. Ob die Tiere erscheinen, hängt ganz von der aktuellen Nahrungssituation im Wald ab – manchmal kommen sie, manchmal bleiben sie weg. Es handelt sich also nicht um vollständig wilde Tiere, wohl aber um die aus unserer Sicht verantwortungsvollste und naturnächste Art der Begegnung mit ihnen.
Voller Vorfreude und mit der Hoffnung auf möglichst viele Sichtungen machen wir uns auf den Weg. Im Internet finden sich auch Berichte von Besuchern, die entweder lange warten mussten oder gar kein Tier zu Gesicht bekamen. Vom Eingangstor – inklusive etwas umständlichem Kartenkauf und obligatorischer Online-Voranmeldung – wandern wir etwa eine halbe Stunde durch den dichten Urwald. Nur gelegentlich werden wir von einem Elektro-Golfwagen überholt, in dem Besucher den Fußmarsch vermeiden.
Überpünktlich – eine halbe Stunde vor Beginn der Fütterung – erreichen wir die Plattform. Schnell erkennen wir, dass sich andere Besucher bereits aufgeregt, aber erfreulich leise, entlang des Sicherheitsgeländers verteilt haben. Und tatsächlich: Einige Orang-Utans haben sich schon eingefunden und warten gierig auf ihre Bananen!
Fasziniert beobachten wir, wie sich die Tiere mühelos durch die Baumwipfel schwingen oder an den gespannten Seilen auf- und abturnen. Nach etwa fünfzehn Minuten, in denen wir auch mehrere Mütter mit Babys sehen, kommt noch einmal ganz besondere Stimmung auf: Aus dem Dickicht hört man plötzlich das laute Knacken von Ästen, ganze Baumkronen beginnen zu schwanken – Annuar naht.
Das etwa 100 Kilogramm schwere Alphamännchen duldet keine Gesellschaft beim Essen. Die anderen Tiere ziehen sich augenblicklich zurück, während sich der mächtige Orang-Utan in aller Ruhe an den Früchten bedient. Als dann auch noch der tägliche Nachmittagsregen einsetzt – der dem Regenwald schließlich seinen Namen gibt – ist die Szenerie vollkommen. Für uns erfüllt sich in diesem Moment ein lang gehegter Traum.
Einzig die Rückfahrt verläuft nicht ganz wie geplant: Da wir uns recht weit außerhalb Kuchings befinden, der Regen weiterhin unaufhörlich fällt und wir uns die wenigen verfügbaren Grab-Fahrer mit anderen Touristen teilen müssen, will einfach kein Fahrer uns abholen. Aber wir wären nicht wir, wenn wir nicht einen Plan B hätten! Und der fasst rund 40 Personen, fährt elektrisch und ist in Kuching sogar kostenlos: der Stadtbus.
Eigentlich hatten wir wegen der langen Fahrzeit (laut Fahrplan knapp zwei Stunden) auf ihn verzichten wollen. Doch nun sitzen wir im neuen, klimatisierten E-Bus mit kostenlosem WLAN, und als wir den zügigen Fortschritt verfolgen, entscheiden wir spontan, auf den geplanten Umstieg in ein Grab am Flughafen zu verzichten. Und siehe da: Keine Stunde später erreichen wir unser Hotel – wohl auch, weil bei diesem Wetter kaum jemand unterwegs ist.
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